„Aber, … aber“, Emilys Stimme zitterte, „was wird denn jetzt aus unserem Weihnachten?“
„Oh, das darf doch jetzt nicht wahr sein!“, entfuhr es Nils. Er schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.
Leider war es wahr. Alle Passagiere in dem überfüllten ICE, in dem er mit seiner Familie saß, hatten es auch gehört. Soeben hatte sich Herr Brookmann aus dem Zugteam per Lautsprecher-Durchsage gemeldet: „Meine sehr verehrten Fahrgäste“, hatte er gesagt, „wie Sie gemerkt haben, ist unser Zug soeben zum Stehen gekommen. Wir wissen momentan noch nicht, was der Grund unseres unplanmäßigen Halts ist, melden uns aber sofort wieder, sobald wir Näheres mitteilen können. Bis dahin bitten wir Sie noch um etwas Geduld …“
„… vielen Dank für Ihr Verständnis“, vollendete Nils mit zusammengebissenen Zähnen den Satz.
„Na, bravo!“, seufzte seine Frau Carolin mit müden Augen, die neben ihm saß.
„Nicht schon wieder!“, rief seine Tochter Emily, die ihm gegenüber saß.
„Wo sind wir denn jetzt?“, fragte sein Sohn Jonas verschlafen, der neben Emily saß. Er reckte den Hals und versuchte durch das Fenster neben ihrem Tischchen etwas zu erkennen. Aber das Fenster war schwarz, denn draußen war es inzwischen dunkel geworden.
„Keine Ahnung, Großer“, sagte Nils. „Irgendwo zwischen Göttingen und Hannover.“ Hamburg, wo Nils’ Eltern lebten, war ihr Ziel. Die planmäßige Ankunft dort war schon vor über einer Stunde gewesen, denn dieser Halt und diese Verzögerung war nicht die erste. Schon deshalb war die Stimmung schlecht – an Ihrem Tisch im Großraumabteil, in Ihrem Wagen, im ganzen Zug. Die letzte Durchsage von Herrn Brookmann war deshalb von einem allgemeinen Raunen, Seufzen, Schimpfen und Fluchen begleitet worden. Manche hatten auch gelacht, aber es war ein böses Lachen gewesen. Die Geduld fast aller Reisenden war restlos aufgebraucht. Es war der 23. Dezember, ein Tag vor Heiligabend.
Nils schrieb eine Textnachricht an seine Eltern: ,Stehen schon wieder. Diesmal auf offener Strecke. Wissen noch nicht, wann es weitergeht. Bitte nicht vom Bahnhof abholen! Wir nehmen uns ein Taxi. Gruß N.ʻ
Carolin und er versuchten dann noch einmal die Stimmung zu retten: „Möchtet ihr nochmal was spielen?“ … „Oder wollen wir nochmal ins Bord-Bistro? Hat jemand Durst oder Hunger?“, fragte Nils.
„Och, nööö! Ich will nix essen, ich will zu Oma und Opa! … Wir wollen doch endlich Weihnachten feiern!“, rief Emily.
„Mann, nicht schon wieder irgendwas für Babys spielen! … Ich hab’ langsam keinen Bock mehr auf Zugfahren!“, brachte auch Jonas die allgemeine Stimmung auf den Punkt.
„Ja, Großer. Ich weiß, ich auch nicht. Aber wir müssen eben Geduld haben, bis wir angekommen sind … es konnte doch keiner wissen, dass es heute so große Probleme gibt …“
„Na ja, … dass es ein schrecklicher Tag zum Zug fahren mit viel zu vielen Leuten und technischen Problemen werden wird, davon konnte man ja nun ausgehen“, sagt jetzt Carolin. Ihre Stimme klang gereizt, für einen versöhnlichen Tonfall hatte sie anscheinend keine Kraft mehr …
„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte Nils zurück. Auch er konnte seine Gereiztheit kaum noch unterdrücken. „Ich kann doch nichts dafür, dass Züge ausfallen oder auf offener Strecke stehen bleiben, oder?“
„Das nicht, aber musstest Du wirklich drauf bestehen, dass wir heute zu deinen Eltern fahren? … ich meine, wir hätten doch auch schön zwischen den Feiertagen, so am 27. oder 28. fahren können, ganz in Ruhe und ohne Hektik …“
„Ich verstehe wirklich nicht, wieso Du jetzt wieder davon anfangen musst, wir hatten das doch besprochen …“
„Du hast gesprochen, nachdem Du es dir in den Kopf gesetzt hast. Ich habe dann irgendwann nur nicht mehr nein gesagt. Dann habe ich alle Geschenke besorgt, die Koffer gepackt und die Fahrkarten gekauft …“
„Das ist doch … das stimmt doch so gar nicht!“
Emily und Jonas tauschten einen Blick und verdrehten dann beide die Augen. Jetzt ging das schon wieder los! Noch ein Streit der Eltern … Emily versteckte sich hinter ihrem Comic, Jonas schaute weiter angestrengt aus dem Fenster. Schon war es vorbei mit dem Frieden.
„Du willst doch eh immer mit dem Kopf durch die Wand! Wahrscheinlich willst Du nur zu deinen Eltern, um dich schön bekochen zu lassen und dich mal wieder um nichts kümmern zu müssen! Ein Weihnachten ganz nach deinem Geschmack also!“ Die letzten Worte hatte Carolin gebrüllt, sodass es um sie herum merklich ruhiger geworden war. Viele Leute starrten Sie jetzt an.
Auch Nils hatte das bemerkt. Es war ihm sehr peinlich. „Können wir das nicht vielleicht auch ein anderes Mal … oder zumindest leiser ausdiskutieren?“, zischte er.
Doch Carolin hatte sich noch nicht beruhigt: „Ja, klar! Jetzt am besten wieder alles totschweigen, was?“
„Könntest Du vielleicht ein bisschen leiser …?“
„Ach, mir reicht’s! Ich geh’ jetzt, … dann habt ihr eure Ruhe!“
Damit rauschte sie aus dem Abteil und kämpfte sich im Übergangsbereich zum nächsten Wagen durch die dort auf ihren Koffern und Rucksäcken Sitzenden, die keinen regulären Platz mehr gefunden hatten.
„Mama?“, rief Emily ihr unsicher hinterher. Ihre Augen schimmerten feucht.
„Papa, gehst Du denn nicht hinterher?“, fragte Jonas verwirrt.
Nils saß mit verschränkten Armen da und starrte auf die Tischplatte vor sich. „Nein“, sagte er schließlich kopfschüttelnd. „Lassen wir sie! Vielleicht kommt sie ja bald zurück.“ „Aber, … aber“, Emilys Stimme zitterte, „was wird denn jetzt aus unserem Weihnachten?“
Fortsetzung folgt am 19.12.2022…