„Du kannst doch jetzt nicht aussteigen! Es ist 2 Grad unter Null und es schneit!“ rief Natalie. Aber Thomas stieg aus…
Festtagsstau – BADER Weihnachtsgeschichte Teil 1
Der Wagen kam zum Stehen und die Start-Stopp-Automatik schaltete den Motor ab. „Na, super“, seufzte Natalie und verdrehte die Augen. Thomas sagte gar nichts, er hielt nur das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Es dauert bestimmt nicht lange“, presste er mechanisch hervor, wie einer, der sich selbst Mut machen will und doch genau weiß, dass er es nicht schaffen wird. Der Verkehrsfunk im Autoradio meldete sich: „… wegen eines umgestürzten Futtermittel-LKWs und entstandenen Auffahrunfällen voll gesperrt. Mittlerweile schon 13 km Stau. Bitte diesen Bereich unbedingt großräumig umfahren. Die Feuerwehr ist im Einsatz.“
… „Na, super“, seufzte jetzt auch Thomas, und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, nur um dann in aggressivem Ton fortzufahren. „Super, hast Du das hingekriegt!“ – „Ich?“, rief Natalie entrüstet. – „Natürlich Du!“, regte sich Thomas weiter auf: „Fahr doch ruhig über die Autobahn, dann sind wir schneller zu Hause …“, äffte er seine Freundin nach. „… warum höre ich überhaupt auf dich? Am Tag vor Weihnachten erst jedes verdammte Geschenk für die Familie einkaufen und dann auch noch über die Autobahn zurück? Oh, Mann!“ – „Bin ich jetzt Schuld an dem Stau oder was?“ – Thomas antwortete nicht. – „Nächstes Jahr gibt es gar keine Geschenke , für niemanden!“, schimpfte jetzt auch Natalie. „…oder Du kaufst den Mist für deine Eltern in Zukunft alleine!“ – Er sagte nichts. Mit nur schlecht unterdrückter Wut sah er zu, wie vor und neben ihnen die ersten Menschen aus ihren Autos ausstiegen, obwohl inzwischen leichter Schneefall eingesetzt hatte.
Thomas nutzte die paar Meter, die zwischen ihnen und dem Wagen davor lagen, rangierte auf der linken Spur ganz nach links und schaltete dann den Motor ab. Der bisher laut im Leerlauf neben ihnen tuckernde LKW tat in diesem Moment dasselbe. „Bist Du verrückt?!?“, fuhr Natalie ihn an. „Ohne Heizung können wir erfrieren!“
Thomas verkniff sich ein sarkastisches Lachen: „Ach, Quatsch! So schnell geht das nicht! … Außerdem kann ich den Motor jederzeit wieder starten.“
Dann Stille.
„Immer müssen wir alles auf den letzten Drücker erledigen!“, fing er wieder an.
„Du meinst wohl, immer muss ich alles auf den letzten Drücker erledigen oder?“, erwiderte sie giftig.
„Wenn Du’s genau wissen willst: ja“, giftete er zurück.
Natalie schwieg. Thomas schaute aus dem Fenster. Der LKW neben ihnen hatte eine Weihnachtsbeleuchtung, eine schrecklich kitschige Weihnachtsbeleuchtung, wie er fand: Mit roten, grünen und weißen Lichtern, die an der Oberkante von Windschutzscheibe und den Scheiben der Seitenfenster rundherum durchs Führerhaus lief. Die Lichter blinkten aufdringlich im Wechsel. Auf der Fahrertür war ein Weihnachtsmann-Aufkleber angebracht, auf dem der Weihnachtsmann über eine Leiter ins Führerhaus kletterte. So sollte es zumindest scheinen. Zur Krönung des Ganzen stand auf dem großen Armaturenbrett ein grell und aufdringlich geschmückter Tannenbaum, der fast bis unter die Decke reichte. Thomas schüttelte sich. Das Gesicht des Fahrers konnte er nicht erkennen.
Eine Viertelstunde später meldete sich das Radio wieder mit der Verkehrsübersicht: „… bitte diesen Bereich der Autobahn weiträumig umfahren, die Bergungs- und Aufräumarbeiten haben gerade erst begonnen und können noch Stunden andauern. Inzwischen meldet die Polizei 16 km Stau. Eine Umleitungsempfehlung …“ – Thomas schaltete das Radio ab. „Na, dann frohe Weihnachten …“. Er schaute Natalie an. Sie schaute demonstrativ geradeaus. Thomas trommelte auf das Lenkrad. „Das bringt doch hier alles nichts. Ich geh mal ein bisschen spazieren … ich seh’ ja dann, wenn es weiter geht“, fügte er ironisch hinzu.
„Du kannst doch jetzt nicht aussteigen! Es ist 2 Grad unter Null und es schneit!“ – „Ich hab eine Winterjacke und einen Schal und bleib ja nicht ewig …“ Damit öffnete Thomas die Tür. „Schlüssel steckt, wenn Du die Heizung brauchst. Bis später!“ „Aber …“, hörte er Natalie noch. Dann warf er die Tür zu.
Die Kälte traf ihn wie ein Schlag. Der Schneefall war stärker geworden, dicke Flocken tanzten um ihn herum. Es stank entsetzlich nach Autoabgasen, Bremsen- und Reifenabrieb. Der Lärm des frei dahin brausenden Verkehr auf der Gegenfahrbahn dröhnte ihm entgegen. Thomas musste husten. „Jetzt bloß nicht umdrehen“, sagte er sich, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und stapfte, die Hände tief in den Taschen, los Richtung Stauanfang. Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden.
Mit zusammengekniffenen Augen schaute Natalie ihm hinterher: „Dieser Idiot!“, dachte sie. „Wie kann man nur so dickköpfig sein?“ Sie nahm ihr Handy und schickte ihrer Mutter eine Nachricht, dass die Weihnachtseinkäufe jetzt zwar erledigt seien, sie aber in einem wahnsinnig langen Stau stünden, ihr Freund jetzt gerade zu einem „Spaziergang “ auf der Autobahn aufgebrochen sei, sie aber hoffentlich trotzdem morgen Abend zum Weihnachtsessen zu ihnen kommen könnten … kurz darauf antwortete ihre Mutter: „Oh, wie blöd! Ganz ruhig. Dein Vater ist im Stau früher auch regelmäßig durchgedreht. Und dann noch so kurz vor Weihnachten. Ist jetzt halt so. Passt gut auf euch auf. Freuen uns auf morgen! Gruß M+P“ Natalie steckte das Handy in die Handtasche und betrachtete gedankenverloren den hell erleuchteten LKW, der neben ihnen stand.
Fortsetzung folgt am 17.12.2020…